Leben und leben lassen - ein Brief an meine Verwandten

Ihr kennt mich nicht. Kein bisschen, und ihr werdet mich vermutlich auch nicht mehr kennen lernen. Seit 21 Jahren lebe ich auf dieser Erde, 21 Jahre die ihr miterlebt habt. Ihr wusstet von meinen ersten Schritten, meinen ersten Worten, wir waren gemeinsam im Zoo oder haben andere Unternehmungen gemacht. Ihr kanntet meine Noten, von der ersten Klasse an, und ihr habt mich beglückwünscht als ich auf das Gymnasium gehen durfte. Zu meiner Jugendweihe habt ihr mir ein Aufklärungsbuch und Kondome geschenkt, ihr wart cool. Ich hab euch Briefe geschrieben, von den entfernteren Verwandten wurdet ihr die einzigen denen ich Dinge anvertraute. Ihr wusstet von den Jungen in die ich mit 15 verknallt war, und davon dass ich eine Therapie anfing wegen der Selbstverletzungen. Selbst nach dem Abitur habe ich euch noch vertraut, euch von meinem Beziehungskonzept erzählt, lange bevor ich es beispielsweise meinem Vater sagen konnte. Ich begann mein Studium, ihr habt mir jeden Monat Geld geschickt und ich hab mich wirklich ganz ehrlich darüber gefreut, auch wenn wir nur noch selten Kontakt hatten.
Aber dann habe ich angefangen für mich selbst zu denken, nicht mehr allen anderen hinterherzurennen in dem Glauben ich müsse dazugehören, das habe ich nie wirklich, und kann mir auch nur schwer vorstellen dass ich es jemals werde. Ich würde sagen, ich habe begonnen ich selbst zu sein. Herauszufinden wer ich bin, was ich will, was mir wichtig ist, und was ich denke. Ich habe nicht länger an das geglaubt was mir vorgelebt oder beigebracht wurde, sondern angefangen meinen eigenen Weg zu finden, meine Eigenen Sichtweisen zu entwickeln. Und seitdem mögt ihr mich nicht mehr. Ihr versteht mich nicht, und versucht auch nicht das zu ändern. Ihr fragt was ich vorhabe, aber wenn die Antwort nicht lautet 'Ausbildung' oder 'Studium', dann wollt ihr eigentlich nichts weiter hören. Und ihr redet meinen Großeltern ein schlechtes Gewissen ein, als ob sie irgendetwas dafür könnten, dass ich nicht so bin wie ihr mich haben wollt. Ihr erzählt ihnen Dinge, die ich euch damals in den Briefen anvertraut habe, von denen sie nichts wussten. Ihr belastet Menschen mit Problemen die überhaupt nicht existieren würden ohne eure Einmischung. Und ihr hört mir nicht zu wenn ich versuche euch zu erklären was ich denke. Ihr habt eure Sicht auf die Welt, und wie sollte ich, das 21 jährige Kind schon irgendwas wissen, richtig?
Ihr sagt ich habe mich in den letzten anderthalb Jahren, seit ich das Studium abgebrochen habe, kein Stück weiterentwickelt. Weil Entwicklung bei euch bedeutet sich in das System einzureihen und mit dem Strom zu schwimmen. Ich will nicht behaupten ich wüsste mehr über das Leben als ihr, aber ich weiß zumindest, dass eure Sichtweise nicht richtiger ist als meine.
Ihr seid intolerant und festgefahren, ihr seid stur-köpfig und engstirnig. Aber das kann ich euch nicht ins Gesicht sagen. Weil ich euch genauso wenig kenne wie ihr mich. Ich weiß nicht was meine Worte anrichten würden, und deshalb behalte ich sie, im Gegensatz zu euch, für mich. Naja zumindest werfe ich sie euch nicht an einer Geburtstagstafel an den Kopf. Ob ihr das hier jemals lesen werdet weiß ich schließlich nicht.
Ihr sagt ich würde meinen Körper nicht schätzen, weil ich sage ich würde meine Leiche einfach in den Krankenhausmüll werfen lassen, während ihr das nächste Bier bestellt, und ich seit Jahren nur Wasser trinke und mich seit einer Weile mit Ernährung beschäftige um herauszufinden, wie ich meinen Körper möglicht gut behandeln kann während ich lebe, denn wenn ich tot bin, ist es zu spät dazu.
Ihr sagt ich könne nicht menschlich wachsen, wenn ich die Tage nur vorm Computer verbrächte, und ich solle doch mal einen Blick in die Welt raus werfen, wie viel Leid es dort gibt und wie glücklich ich mich schätzen sollte und im gleichen Atemzug sagt ihr dass ihr das wüsstet weil ihr ja jeden Sonntag den Weltspiegel im Fernsehen schaut. Ihr lasst mir keine Zeit um zu sagen, dass ich nicht der Meinung bin dass man Leid gegen Leid aufwiegen und entscheiden kann, was jetzt schlimmer ist, oder dass ich im Internet genauso viel oder sogar mehr von der Welt mitbekomme als ihr im Fernsehen. Woran wachst ihr denn? An euren Jobs, in denen ihr seit 20 Jahren das gleiche macht?
Und zwischen Witzen über männliche Genitalien und 'also wir haben früher...' erzählt ihr mir dass ich im Jetzt leben soll, und nicht darüber nachdenken wie die Gesellschaft sich zukünftig verändern könnte, und schüttelt mit dem Kopf wenn ich sage, dass es doch vollkommen okay ist, wenn Menschen sich hunderten Botoxanwendungen unterziehen, solange sie sich selbst damit wohlfühlen. Ihr kennt mich nicht, und wahrscheinlich werdet ihr mich auch niemals kennenlernen. Nachdem was ich am Wochenende von euch gehört habe, möchte ich euch am liebsten niemals wieder sehen. Wenn ich nicht mit euch verwandt wäre, würde ich nicht im Traum daran denken mit euch überhaupt zu reden, denn es ist offensichtlich, dass ihr nicht daran interessiert seid andere Sichtweisen als eure eigenen zur Kenntnis zu nehmen oder gar zu akzeptieren. Ihr müsst nicht meiner Meinung sein, selbstverständlich nicht! Aber ihr dürft auch nicht erwarten, dass ich eure Meinung übernehme und willenlos dem folge, was ihr euch für mein Leben vorstellt.
Früher oder später, spätestens aber wenn meine Großeltern nicht länger auf dieser schönen Erde leben, werde ich kein einziges Wort mehr mit euch wechseln. Ihr gehört zu den Menschen die ich, ohne das böse zu meinen, als Zeit- und Energieverschwendung betrachte, denn mit euch zu sprechen, bringt weder mich weiter noch euch. Gespräche mit euch sind komplett sinnlos und ich finde es wahnsinnig traurig, dass sich unsere Beziehung auf diese Weise entwickelt hat.
Ich hoffe wirklich aus tiefstem Herzen, dass ihr ein erfüllendes Leben führt, dass sich eure Ideale und Vorstellungen mit eurer Realität decken und ihr irgendwann (in hoffentlich sehr, sehr ferner Zukunft) glücklich auf euer Leben zurückblicken könnt und mit der Überzeugung alles richtig gemacht zu haben das zeitliche segnet. Und ich werde alles daran setzen, dass es mir später genauso geht.

1 Kommentar:

  1. Das kommt mir alles sehr bekannt vor... Sobald Du Dich anders verhältst als andere, oder anders als vorher, weil Du Dich verändert oder weiterentwickelt hast, verlierst Du Menschen, die nicht verstehen, nicht akzeptieren, oft nicht einmal tolerieren können, was Du (jetzt) tust. Von Verwandten/Familie will ich da gar nicht erst anfangen, für die bin ich eh Antichrist, Abschaum und was es noch für schöne Worte dafür gibt... Aber besonders traurig finde ich solche Entwicklungen bei Menschen, die mir wirklich wichtig waren, oder die besonders oft betonen, wie toll sie doch mit allem umgehen. So völlig unreflektiert und ohne sich selbst jemals zu hinterfragen. Aber Du hast recht, es ist dann besser, sich von diesen Menschen frei zu machen, denn sie rauben wirklich nur einen Haufen Energie. Und zu der Meinungssache: Da gibt es auch etwas, das mich immer wieder aufregt, nämlich Menschen, die glauben, das Ziel einer Diskussion sei, dass am Ende alle einer Meinung sind. So funktioniert die Welt nunmal nicht und eigentlich ist das auch ganz gut so. Das ist alles nicht so leicht, sich abseits des Stroms zu bewegen, aber irgendwann werden wir uns (hoffentlich) besser fühlen, als diejenigen, die für immer in ihrem Käfig bleiben. Etwas anders zu machen, muss nicht unbedingt ein Fortschritt sein, noch ist es ein Rückschritt, selbst wenn das für andere so aussehen mag. Achja, das ist für mich gerade aktueller denn je und ich bin froh, wenn ich in ein paar Wochen auch endlich darüber sprechen kann... Du bist auf jeden Fall immer noch eine meiner Inspirationsquellen gegen manchmal doch noch aufkommende Zweifel an meinen Entscheidungen, die jetzt tatsächlich bald umgesetzt werden. Aber eigentlich freue ich mich gerade noch ein bisschen mehr darauf, zu tun, was ich will. :)
    Mach auf jeden Fall immer weiter so, mit dem Du selbst sein!

    Alles Liebe,
    Lucia

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